Russische Uhren
Aufbau einer Uhrenindustrie
Der Aufbau einer russischen Uhrenindustrie fällt in eine Zeit, die geprägt ist von politischen und wirtschaftlichen Umbrüchen, die auch erhebliche Auswirkungen auf die weltweite Uhrenindustrie hatten.
Vor dem Ersten Weltkrieg war die Welt der Uhren und der Uhrmacher noch in Ordnung. Die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beginnende Industrialisierung hat den Bedarf für Zeitmessgeräte angekurbelt. Der Wecker gehörte in jeden Haushalt. Die Taschenuhr war die „Uhr am Mann“.
Der Erste Weltkrieg und die wirtschaftlichen Verwerfungen nach dem Krieg mit einer Welle des Protektionismus haben diese Welt verändert. Zeitgenössische Statistiken zeigen das.
So hat ein Ausschuss zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der Deutschen Wirtschaft sich mit einer Enquete-Kommission ausgiebig mit der Deutschen Uhrenindustrie der Nachkriegszeit beschäftigt. Die Enquete hat dabei auch die Situation am Weltmarkt analysiert und diese in mehreren der insgesamt 137 statistischen Tabellen aufgezeigt:
Die junge Sowjetunion spielte in den 1920er Jahren bei den Produktionsländern von Uhren noch keine Rolle. Und die Statistiken über die Einfuhren von Uhren zeigen den dringenden Bedarf der UdSSR, eine eigene Uhrenindustrie aufzubauen.
USA
Die amerikanische Uhrenindustrie bestand seit ihrer ersten Blütezeit um 1865 aus einer größeren Anzahl von Firmen mit wechselvoller Firmengeschichte (siehe dazu: Kapitel: “КИРОВКА“, Exkurs: Dueber Hampden).
Nur sieben Firmen haben die schwierigen 1920er Jahre und die Große Depression überlebt.
Bei den hochwertigen Uhren waren es: Elgin, Waltham und Hamilton
Bei den Dollar-Uhren: New Haven Clock, Waterbury Clock, Westclock und E. Ingraham Clock. (Harrold: American Watchmaking)
In den USA stieg die Quantität der Uhren-Produktion von ihren Anfängen im Jahr 1860 bis 1930, als die Sowjetunion in die industrielle Uhrenproduktion einstieg, exponentiell:
Conventional Jeweled Watches | Inexpensive Jeweled Watches | Dollar Watches | |
1880 | 2,8 | n.a. | 0,1 |
1900 | 22 | 2,9 | 18,5 |
1930 | 79,2 | 7,2 | 186 |
(Harrold: American Watchmaking, Zahlen in Millionen Stück)
Am amerikanischen Uhrenmarkt sind in den ersten 30 Jahren des vergangenen Jahrhunderts drei Trends erkennbar:
- die Größe der Taschenuhren wurde handlicher. Die 18-Size Uhren aus den Anfängen wurden zunehmend durch kleinere Größen abgelöst. Zum Ende des WW I hatte die 16-Size ihren Höhepunkt bereits überschritten. Und 1920 gab es von der 12-Size mehr Uhren als von allen anderen Größen zusammen.
- Armbanduhren, die etwa um 1900 auf den Markt kamen, erhielten durch den Krieg einen rasanten Aufstieg und 1930 beherrschten sie mit mehr als 90 Prozent aller verkauften Uhren den Markt.
- Unter den Taschen- und Armbanduhren wiesen die “Dollar-Uhren” die mit Abstand größten Verkaufszahlen auf.
Im Unterschied zur Schweiz und zu Deutschland verfügten die USA über einen großen Binnenmarkt und der größte Anteil der in Amerika hergestellten Uhren wurde auch in Amerika verkauft.
Namhafte Uhrenfabriken in den USA haben den Trend der Zeit nicht erkannt und sind in den Turbulenzen nach dem Ersten Weltkrieg in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten. Einige mussten Konkurs anmelden.
Dazu zählten auch Dueber-Hampden und Ansonia.
Wenn man sich diese Zahlen und den Trend ansieht, kann man zu folgendem Schluss kommen:
Russland hat mit der “КИРОВКА“, dem Nachbau einer Dueber-Hampden 16 Size, beim Aufbau einer eigenen Uhrenindustrie gegen den Trend auf “das falsche Pferd” gesetzt. Aber, um im Bild zu bleiben, Dueber-Hampden - wie auch Ansonia - waren “die einzigen Pferde”, die am Welt-Markt zu kaufen waren.
Schweiz
Die Struktur der Schweizer Uhrenindustrie unterschied sich grundsätzlich von der in den USA. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es in der Schweiz knapp 1.000 kleine und mittelständische Uhrenfabriken - meist Familienbetriebe - mit weniger als 40 Mitarbeitern. Die Industrialisierung der Produktion hat zwar zu technischen Neuerungen geführt, das Schweizer Prinzip der bewusst gewollten De-Zentralisierung wurde aber beibehalten.
Dennoch kam es angesichts der schwierigen politischen Situation - auch in der Schweiz – in den Jahren 1920 bis 1930 zur Bildung verschiedener Katelle:
1924 schlossen sich die Uhrenfabrikanten zusammen zur: “Fédération Suisse des Associations des Fabricants d`Horlogerie”
1926 bildeten die Rohwerke-Hersteller ihre: “Ebauches SA”
1927 schlossen sich dann die Hersteller von Uhrenbestandteilen zusammen zur: “Union des branches annexes des l`horlogerie”
Die beiden letzt genannten schlossen sich dann 1931 zur “ASUAG”, der Allgemeinen Schweizerischen Uhrenindustrie AG, zusammen
Unabhängig vom weltweiten Isolationismus und Protektionismus stieg die Anzahl der exportierten Werke aus der Schweiz nach dem Krieg deutlich an. Die Schweiz blieb Weltmarktführer bei den Taschenuhren.
Deutschland
Die großen Uhrenfirmen in Deutschland waren während des Krieges Rüstungsbetriebe. Damit waren ihre Startvoraussetzungen nach dem Krieg schwieriger als in den USA und in der Schweiz.
Die Enquete zur Untersuchung der Erzeugungs- und Absatzbedingungen der Deutschen Wirtschaft hat ihren Bericht 1930 vorgelegt.
In der Vorbemerkung dazu heißt es u.a.:
“Die deutsche Uhrenindustrie … ist in ihrem Hauptzweig, der Großuhrenproduktion, in erheblichem Ausmaße auf den Export angewiesen. Nach dem Krieg stand sie vor der Notwendigkeit, neue Absatzmöglichkeiten für die gestiegene Produktion zu schaffen und die alten Märkte gegen aufstrebende Konkurrenzindustrien zu verteidigen.”
In der Zusammenfassung heißt es dann u.a.:
“Auf dem Weltmarkt für Uhren besteht eine internationale Produktionsdifferenzierung dergestalt, dass die Schweiz vor dem Kriege 90 % der zum Export gelangenden Taschenuhren und Deutschland 60 % der Weltausfuhr von Großuhren lieferte.
In der Nachkriegszeit ist hierin insofern eine Wandlung eingetreten, als bei allgemeiner Konkurrenzverschärfung der Anteil Deutschlands an der Weltausfuhr von Großuhren auf 70 % gesteigert warden konnte. Der schweizerische Anteil an der Taschenuhrenausfuhr hat sich etwa auf derselben Höhe gehalten.
…
Dass sich die deutsche Ausfuhr trotz des Ausfalls wichtiger Absatzmärkte (Russland, Frankreich, Belgien) so günstig entwickeln konnte, muss … auf die gesteigerte Aufnahmefähigkeit der in den Industrialisierungsprozess eingetretenen Gebiete zurückgeführt werden …”
Die mit statistischen Tabellen untermauerten Aussagen des Berichts zeigen auch noch etwas anderes:
Deutschland und die Schweiz waren in den 1920er Jahren auf Uhren-Exporte angewiesen, um die eigene Industrie auf ihrem hohen Niveau halten zu können. Lediglich die USA verfügten über einen hinlänglich großen Binnenmarkt.
Und die Statistiken zeigen auch das völlige Zusammenbrechen der russischen Uhrenimporte nach der Oktoberrevolution.
Japan
Japan, das Reich der Mitte, hatte sich zwei Jahrhunderte lang, bis 1854, vollkommen vom Westen isoliert. Es gab zwar große Städte und eine hochentwickelte Kultur, aber keine industrielle Technik. Das änderte sich, als der letzte Shogun zum Rücktritt gezwungen wurde und 1867 der erst 15jährige Kaiser Mutsuhito die Regierung übernahm. Er regierte bis 1912. In dieser sogenannten Meiji-Ära übernahm Japan die Technik und Zivilisation des Westens und stieg innerhalb weniger Jahre von einem mittelalterlichen Lehns- und Vasallenstaat zu einer modernen Industriegroßmacht auf. Der Gregorianische Kalender und das Dezimalsystem wurden übernommen, Fabriken errichtet, Eisenbahnstrecken gebaut sowie das Post- und Telegraphenwesen eingeführt.
Der Aufbau einer eigenständigen japanischen Uhrenindustrie zeigt zeitliche Parallelen zu dem in Russland. 1880 war der letzte Versuch in der Zarenzeit, eine russische Uhrenindustrie aufzubauen, gescheitert.
1881 gründete Kintaro Hattori die K. Hattori & Co. Ltd. als eine Gesellschaft für Verkauf, Zusammenbau und Reparatur importierter Uhren. Aus dieser Gesellschaft entstand im März 1892 die Seikosha Co. Ltd. mit dem Ziel, in Japan eine eigene Uhrenindustrie aufzubauen. Die Fabrik wurde durch das Erdbeben von 1923 nahezu völlig zerstört. Nach dem Wiederaufbau, ab Dezember 1924, werden die Uhren von Seikosha unter dem Handelsnamen "Seiko" vertrieben. - In Moskau wurde in diesem Jahr die MEMZ gegründet.
Seikosha / Seiko hat schon in den 1920er Jahren Uhren an die Sowjetunion geliefert. Von einem russischen Uhrenfreund aus Moskau habe ich zwei Taschenuhren, die sein Großvater getragen hat, in meiner Sammlung.
Die Citizen Watch Co. wurde 1930 gegründet - im gleichen Jahr, wie die beiden Staatlichen Uhrenfabriken in Moskau. Citizen geht zurück auf Shokosha, 1918 von Kamekichi Yamazaki gegründet, um eine nationale Uhrenindustrie in Japan aufzubauen. In den Jahren 1938 bis 1948 war es japanischen Firmen verboten, ausländische Namen zu tragen. "Citizen" hieß in dieser Zeit "Dai Nippon Tokei".
Bereits in den 1920er Jahren spielte Japan bei der Deckung des Uhren-Bedarfs in Russland eine nennenswerte Rolle. Dabei liegt die Vermutung nahe, dass allein aufgrund der Entfernungen „im fernen Sibirien“ mehr japanische Groß- und Taschen-Uhren im Einsatz waren.
(Zwischen dem Baikalsee >GMT+8< und Tokio >GMT+9< liegt nur eine Zeitzone / zwischen dem Baikalsee und Moskau > GMT+3< liegen fünf Zeitzonen)
Bei meinem Besuch im Angarsker Uhrenmuseum, im: „АНГАРСИЙ МУЗЕЙ ЧАСОВ / The Angarsk Museum of Clocks“ 40 km westlich von Irkutsk, am 28. August 2015, konnte ich neben vielen Uhren aus deutscher Produktion auch die Japanische Halle besichtigen. In dem Prospekt des Museums heißt es dazu:
„The Japanese Hall with clocks made in the end oft he XIXth – beginning oft he XXth century is of outstanding originality and elegance. You can see clocks made by the firms Seiko, Tashimoto and Akabisi“
Ende der 1930er Jahre konnten die Uhrenfabriken in der UdSSR nicht die Mengen in der erforderlichen Qualität herstellen, wie sie für das Wirtschaftsleben und insbesondere für das Militär benötigt wurden.
Das findet seinen Niederschlag u.a. in einem Kontingent von weit über 1.000 Präzisionsuhren, zu deren Lieferung sich Deutschland im „Hitler-Stalin-Pakt“ verpflichtet hatte. Russland hat in dieser Zeit aber auch große Mengen japanischer Taschen- und Armbanduhren importiert. ("Die Uhrmacherkunst", Nr. 38/1939, 15. 09. 39, und "Deutsche Uhrmacher-Zeitung", Nr. 28/1941, 12. 07. 41)